Karl May
©Karl May Museum Radebeul

Der falsche Doktor

Nicht immer zeugt das magische Kürzel „Dr.“ vor dem Namen von ehrlicher wissenschaftlicher Arbeit. Mancher Titel ist erschlichen oder auch gekauft. Doch der Druck auf die Unehrlichen steigt

von Joachim Schüring

Karl May log, dass sich die Balken bogen. Wenn er vor großem Publikum sprach, zeigte er stolz die Narben, die er sich angeblich beim Kampf mit einem Bären in Amerika zugezogen hatte. In Amerika, wo er in Wahrheit bis dahin nie gewesen war! Er behauptete, 1200 Sprachen zu beherrschen, ja sogar, dass er selbst Old Shatterhand sei. Bei einer Schweige­minute für seinen Freund Winnetou brach er glaub­haft echt in Tränen aus. Karl May war ein Meister der Selbst­inszenierung, was man einem erfolg­reichen Autor von Abenteuer­­romanen ja auch nicht übel­nehmen müsste.

Übel nahm man ihm seine Hochstapelei am Ende aber doch – nämlich als Karl May, der nie eine Universität besucht hatte, sich ständig als „Dr. Karl May“ vorstellte. „May, der offenbar in seiner eigenen Welt lebte, recht­fertigte sich mit Ehrungen, die ihm in China ­zuteil geworden seien und die weit über einem Doktor­titel stünden“, erklärt der Historiker Ulrich Rasche von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Weil dem Schriftsteller das immer wieder hämische Kritik, vor allem aber Ärger mit den Behörden ein­trug, kümmerte sich schließlich seine Frau um die ­Angelegen­heit. Sie kaufte ihm 1902 in Amerika ein ­ordentliches Ehren­doktor­diplom. Jetzt hatte er eine richtige Urkunde – ausgestellt von der „Universitas Germana-Americana“ in Chicago –, auf der auch das Thema seiner „Dissertation“ stand: „Im Reiche des silbernen Löwen“ (damals war gerade der dritte von vier Bänden dieser literarisch durchaus bedeutsamen ­Reiseerzählung erschienen).

Als ihm auch die Führung dieses Titels offiziell untersagt wurde, gab sich May, so schreibt ­Rasche, kurzerhand als seine eigene Schwieger­mutter aus, um ­unerkannt Erkundigungen in Chicago einzuziehen. Bei jener Universität, so fand der eitle Autor schließlich enttäuscht heraus, handelte es sich lediglich um eine Brief­kasten­firma eines Barbiers, der Hunderte von akademischen ­Titeln verkaufte.

Wäre Karl May doch nur einige Jahrzehnte früher geboren worden. Dann hätte er sich im Dresdner Anzeiger nicht fragen lassen müssen, ob er seinen Titel wohl „von der Universität der Comanchen“ ­erhalten habe. Denn vor allem im 19. Jahr­hundert reichte, wie Rasche ausführt, für die Doktor­würde in vielen Fällen lediglich der Nachweis eines sechs­­semestrigen Studiums und eine kurze mündliche Prüfung. Das ganze Verfahren konnte sogar per Post abgewickelt werden. „Tausende von deutschen ‚Doktoren‘ des 19. Jahr­hunderts haben diejenige­ ­Universität, die sie promoviert hat, nie betreten.“

Die Universität Jena machte den Titelhandel quasi zu ihrem Kern­geschäft. Dem dort lehrenden National­ökonomen Bruno Hildebrand (1812 –1878) zufolge vergab in der Zeit von 1832 bis 1865 allein die Philosophische Fakultät 1867 Doktor­titel – abgesehen von 19 Fällen alle „in absentia“, in Abwesenheit also. Als Gießen einen Bahnhof bekam, stieg auch die dortige Universität in den Kreis der lukrativ produzierenden Doktoren­fabriken auf. „Zu Hunderten sind dort ­Kandidaten mit dem Zug angereist, um sich innerhalb ­eines Tages ohne Dissertation und lediglich aufgrund einer kurzen niveaulosen mündlichen Prüfung mit ­einem Doktor­diplom zu versorgen“, berichtet Rasche.

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts – schlecht für den Möchte­gern­doktor May – kam es zu einem Sinnes­­wandel. Damals forderte der einfluss­reiche Historiker und spätere Nobel­preis­träger Theodor Mommsen (1817 –1903) zornig das Ende der Absenz­promo­tion. In seiner Schrift „Die deutschen Pseudo­doktoren“ fragte er rhetorisch: „Sollte nicht jetzt für diesen Mißbrauch wenigstens die elfte Stunde geschlagen haben? es nicht jetzt an der Zeit sein die Falsch­münzerei ­akademischer Grade den Spiel­höllen nach­zu­senden?“ Das saß, damit hatte er die Institutionen bei ihrer Ehre gepackt. Nun begann die Austrocknung des Titelsumpfes. Immer mehr Universitäten forderten fortan gedruckte Disserta­tionen, öffentliche Verteidigungen und eigene ­Examina – woraufhin nicht nur in Jena die Zahl der ­Promovierten drastisch sank.

Computer
©Norman Meuschke/Universität Wuppertal
Untersuchung zweier Publikationen mit dem Plagiat­erkennungs­system HyPlag: ­Markiert sind in diesem Fall neben identischen Textteilen auch über­einstimmende Quellen­­verweise und mathematische Formeln. Der links gezeigte, in einer Fachzeitschrift erschienene Beitrag musste wegen Plagiats zurück­gezogen werden

Ausgestorben ist das Geschäfts­modell mit den ­akademischen Weihen freilich bis heute nicht. Das ­Kürzel vor dem Namen scheint von so magischer Bedeutung, dass vor allem Zeitgenossen, die es eilig haben und/oder wissenschaftlich wenig ambitioniert sind, den Titel nicht ehrlich und mühselig, sondern einfach mit dem Scheckbuch erwerben. Heute fließt das Geld allerdings nicht an die Fakultäten, sondern an spezialisierte Agenturen, die im Internet zahlreich zu finden sind. Auf der Website der Acad ­Write Inter­national AG beispiels­weise heißt es freimütig: „Doktor­arbeit schreiben lassen – Akademische Ghost­writer helfen bei Ihrer Dissertation“. In einem offen­herzigen Interview mit jetzt antwortete deren Geschäfts­führer Thomas Nemet 2011 auf die Frage, was eine Arbeit ab 200 Seiten kosten würde: „Ich kann gerne mal eine Haus­nummer nennen: Bei dem Umfang müssten Sie Minimum mit 20.000 Euro rechnen, nach oben hin offen.“

Für die Kundinnen und Kunden ist das ein ziemlich gefährliches Geschäft. Wer die gekaufte Arbeit als die seine bei einer Universität einreicht und erwischt wird, dem droht neben einer empfindlichen Strafe vor allem die totale berufliche und private Entblößung. Nemet kann das egal sein. Recht schlicht argumentiert er mit dem Messer­lieferanten, der ja auch nicht haftbar sei, wenn jemand mit einem seiner Produkte die Schwieger­­mutter um die Ecke bringt. Rechtlich agiert der Unternehmer offenbar auf der sicheren Seite.

Nicht alle ehrlosen Arbeiten sind gekauft, manche werden auch in mehr oder minder großem Umfang kopiert, gefälscht, manipuliert oder einfach über­setzt. Nicht jeder Doktortitel wird mit Intelligenz, Fleiß, Mut und Ausdauer, Rück­schlägen, Selbst­zweifeln, schlaf­losen Nächten und dem auch immer wieder mal bohrenden Gefühl des Alles-hinschmeißen-Wollens erworben. Die durch­schnittlich vier bis fünf Jahre dauernde Zeit der Promotion ist geprägt von höchster intellektueller Leistung, die prekär bezahlt und nicht selten ­unter hohen privaten Opfern errungen wird. Für den einen oder die andere ist die Versuchung, sich das Ganze auf unredliche Weise zu erleichtern, allzu groß.

Genau überprüft werden Arbeiten in der Regel erst nach einem Anfangs­verdacht. Statistiken über den Anteil unrecht­mäßig erworbener Titel gibt es daher nicht. Der Jurist Gerhard Dannemann, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt und als Plagiats­experte für das VroniPlag Wiki tätig ist, schätzt, dass um die zehn Prozent der Dissertationen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis grob verletzten. Allein die hohe Zahl besagter Agenturen lässt aber fürchten, dass diese Schätzung zu blauäugig ist. Die größeren Anbieter beschäftigen ja durchaus Hunderte Ghostwriter und erwirtschaften Millionen­umsätze. Auch wenn sich daraus nicht die Zahl der tatsächlich eingereichten und mit einem falschen Titel gewürdigten ­Arbeiten ableiten lässt, bietet dieses Geschäfts­modell womöglich einen Blick in den Abgrund.

Besonders beliebt sind die Dienst­leistungen der Agenturen in den Bereichen Betriebs­wirtschaft, Geistes- und, ja, den Rechts­wissenschaften. Denn in diesen Fach­gebieten entstehen vornehmlich Literatur­arbeiten, die sich im stillen Kämmerlein schreiben lassen – „in absentia“ also. Aber auch in den experimentell aus­gerichteten Fächern der Natur­wissenschaften lassen sich zumindest einzelne Aufgaben extern einkaufen – ­statistische Auswertungen sind da recht beliebt. ­Ansonsten ist in diesen Disziplinen weniger das Abschreiben ein Problem als die Manipulation von Daten.

So wie im Fall des Physikers Jan Hendrik Schön, der allein im Jahr 2001 – vier Jahre nach seiner Promo­tion – im Durchschnitt alle acht Tage einen Fachartikel publizierte, 17 davon in Nature und Science. Dass Schön mit seinen „bahn­brechenden“, aber eben vielfach auf gefälschten und manipulierten Daten basierenden Arbeiten am Ende aufflog, ist wohl nur dem Umstand zu verdanken, dass er es schlicht über­trieben hatte. Weil seine kurze, unfassbar steile Karriere nämlich, so dachten viele, womöglich schon bald von einem Nobel­preis gekrönt würde, schauten einige dann doch genauer hin. Seine Doktor­arbeit wurde am Ende übrigens nicht beanstandet, den Titel verlor er trotzdem – und zwar, weil er sich nach Ansicht der Universität Konstanz „durch sein späteres Verhalten der Führung des Grades als unwürdig erwiesen hat“.

Um Fälschern und Manipulatoren auf die Spur zu kommen, nutzen immer mehr Universitäten spezielle Computer­programme. Die meisten dieser Systeme sind allerdings lediglich in der Lage, die abgegebene Arbeit mit Texten zu vergleichen, die in umfassenden Daten­banken hinter­legt sind. Die ­Zukunft gehört daher Systemen Künstlicher Intelligenz, mit deren Hilfe sich nicht nur Kopien, sondern auch Ähnlichkeiten aufspüren lassen.

So arbeitet Norman Meuschke von der Bergischen Universität Wuppertal an der Entwicklung eines Erkennungs­systems namens HyPlag (Hybrid Plagiarism Detection), mit dem er schon jetzt auch „Para­phrasierungen“ erkennen kann – die Wiedergaben fremder Ideen in eigenen Worten also. Dabei werden vor allem nicht-textuelle Merkmale wie Literatur­verweise, Abbildungen oder mathematische Formeln analysiert. Betrüger über­nehmen diese nämlich oft, wenn sie fremde Arbeiten einfach übersetzen. Aber selbst veränderte Grafiken und Formeln oder Umstellungen im Text könne das Programm in gewissen Grenzen erkennen (siehe Bild). „Wenn jemand auch diese Merkmale stark verändert, sind wir aber weiterhin macht­los“, so Meuschke, der sich übrigens im Rahmen seiner Doktor­arbeit mit dem Thema befasst.

Doch vielleicht ließe sich dieses Wettrüsten ja auch auf ganz andere Art und Weise beenden, nämlich ­indem die wissen­schaftliche Arbeit von Anfang bis Ende konsequent und lückenlos dokumentiert wird. ­Forscherinnen und Forscher müssten dann sämtliche Dokumente – also Notiz­zettel, Labor­bücher, Mess­protokolle und so weiter – permanent und nach jedem Bearbeitungs­schritt auf digitalem Wege archivieren. Jede Veränderung würde mit einem gesicherten ­Zeit­stempel versehen und bliebe nach­voll­zieh­bar.

„Dass sich auf diese Weise Betrug verhindern lässt, ist das eine“, sagt Meuschke, dessen Doktorvater Bela Gipp bereits ein entsprechendes System anbietet. „Das andere ist, dass ehrliche Forscherinnen und Forscher ihre lückenlosen Archive Kolleginnen und Kollegen in aller Welt zugänglich machen können. Das wäre die Möglichkeit für eine grenzen­lose Zusammen­arbeit im besten Sinne der Wissenschaft.“

Joachim Schüring ist Wissenschafts­journalist und Redaktions­leiter dieses Magazins

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