„Regina sitzt rechts von Ihnen, Leo und Hannah haben links von Ihnen Platz genommen“: In der Mathematik heißen solche relativen Orts­angaben Chirotope
©Getty Images / Adie Bush

Mathematik Die reine Mathematik

Wenn unsere Autorin gefragt wird, was sie in ihrer Doktorarbeit gemacht hat, greift sie gern zu Analogien. Denn sie beschäftigt sich mit der mathematischen Beschreibung von „Chirotopen“ und „Phirotopen“ – das sind Abstraktionen relativer Ortsangaben

von Dr. Katharina Schaar

Stellen Sie sich vor, wir treffen uns zusammen mit Freunden auf eine Tasse Cappuccino. Ihre Freundin Regina sitzt rechts von Ihnen, meine Freunde Leo und Hannah haben links von Ihnen Platz genommen. Jetzt haben Sie fast, aber nicht alle Infor­mationen, um die Sitz­ordnung genau zu bestimmen. Ich müsste Ihnen noch verraten, ob sich Hannah von sich selbst aus gesehen links oder rechts von Leo befindet.

Die Abstraktion solcher Orts­angaben – in diesem Fall der Sitz­ordnung – nennt man in der Mathematik ein „Chirotop“. Ein Chirotop enthält relative Lage­infor­mationen von Punkten – aber eben keine absoluten Positionen. Wenn etwa Regina mit ihrem Stuhl nach hinten rückt, ändert sich am Chirotop gar nichts.

Ein Chirotop leitet sich nicht immer aus vorher bekannten Punkt­konfigurationen ab. Manchmal hat man nur die abstrakten Links-/Rechts­beziehungen gegeben und möchte dazu passende Positionen von Punkten rekonstruieren. Das wäre, als würde man vor dem Treffen jedem Gast einen Zettel geben, auf dem steht, wer links und wer rechts von ihr oder ihm sitzt. Bei Chirotopen mit vielen Punkten kann es passieren, dass die Orts­angaben wider­sprüchlich sind und es nicht möglich ist, Punkte zu finden, die den Vor­gaben des Chirotops entsprechen. Das würde sich dann darin äußern, dass die Sitz­ordnung im Café nicht aufgeht. Egal wie sehr sich alle bemühen, den richtigen Platz zu finden, am Ende gibt es immer mindestens eine oder einen, die oder der sich nicht an die Vorgaben auf dem Zettel halten kann. Heraus­zu­finden, ob ein vorgegebenes Chirotop Wider­sprüche enthält, ist eine recht schwierige Aufgabe.

Grundlage eines Chirotops sind reelle Zahlen – also 0, 1, 2 und so weiter, aber auch -1 oder die Kreis­zahl Pi (3,14159 …). In manchen Fällen reichen diese Zahlen aber nicht aus, weshalb wir damit begannen, die umfangreiche Theorie der Chirotope auf so genannte komplexe Zahlen zu über­tragen. Eine komplexe Zahl erhält bei­spiels­weise, wer die Gleichung x2 = -1 zu lösen versucht – die bis ins 16. Jahr­hundert als unlös­bar galt. Eine komplexe Zahl sieht zum Beispiel so aus: 3 + 2i. Das kleine „i“ heißt imaginäre Einheit und ist genau die Lösung unserer obigen Gleichung, das heißt: i2 = –1.

Zeichnungen und chemische Formeln von Minze und Kümmel
©Mathematikum
Chirotope in der Praxis: Moleküle mit der gleichen chemischen Formel sind chiral, wenn sich das Bild der einen nicht durch Drehung mit dem anderen zur Deckung bringen lässt. Auch unsere Füße sind chiral – weshalb es rechte und linke Schuhe gibt. Chirale Mole­küle können ganz unterschiedliche Wirkungen haben. So duftet die linksdrehende Form der Substanz Carvon nach Kümmel, die rechtsdrehende hingegen nach Minze.

Auch die Zahl 5 - 0i ist eine komplexe Zahl, aber da 0 mal i wieder 0 ergibt, ist auch 5 eine komplexe Zahl. Anders aus­gedrückt: Alle reellen Zahlen sind auch komplexe Zahlen. Die reellen Zahlen sind somit eine Teil­menge der komplexen Zahlen.

Komplexe Zahlen haben einige ungewöhnliche Eigen­­schaften. Zum Beispiel lassen sie sich nicht anordnen. Man kann also nicht sagen, welche von zwei komplexen Zahlen die größere ist. Möchte man Chirotope auf komplexe Zahlen über­tragen, hat genau das weit­reichende Konsequenzen. Mathe­matisch gesehen ist nämlich „links von Regina“ ein Größen­vergleich und Größen­vergleiche gibt es ja nun nicht mehr. Im Raum komplexer Zahlen müssen also andere Positions­angaben verwendet werden.

Die komplexen Chirotope, die so genannten „Phirotope“, enthalten also keine Information über links oder rechts, sondern die Angabe eines Winkels. Eine Orts­angabe in einem Phirotop kann so formuliert werden: „Von Ihnen aus gesehen beträgt der Winkel zwischen Hannah und Leo 60 Grad“. In einem Phirotop sind alle Winkel­infor­mationen gespeichert, die eine konkrete Situation beschreiben – also auch: „Von Regina aus gesehen beträgt der Winkel zwischen Hannah und Leo 55 Grad“ und so weiter. Das hat zur Folge, dass sich ein Phirotop im Gegen­satz zum Chirotop sehr wohl ändert, wenn Regina mit ihrem Stuhl ein Stück zurückrutscht. Und: Man kann leicht herausfinden, ob ein Phirotop realisierbar ist oder nicht.

Hierfür haben wir eine „Realisierbar­keits-Formel“ bewiesen, die genau das für jedes Phirotop schnell ausrechnet. Das heißt, für fast alle Phirotope. Denn weil jede reelle Zahl auch eine komplexe Zahl ist, gilt auch: Jedes Chirotop ist auch ein Phirotop. Es gibt also „normale“, nicht-chirotopale Phirotope und solche, die außerdem Chirotope sind, also chirotopale Phirotope.

Zur Veranschaulichung stellen Sie sich eine Gruppe Menschen vor, von denen ein paar Mathe­matiker und Mathe­matiker­innen sind. Auf den ersten Blick sieht man einem Menschen (Phirotop) nicht an, ob er oder sie ein Mathe­matiker oder eine Mathe­matikerin (Chirotop) ist. Von mir wissen Sie es ja, von Hannah und den anderen am Tisch aber nicht.

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Wie bei einem Masken­ball können Chirotope ihre wahre chirotopale Identität verschleiern und so tun, als wären sie ein nicht-chirotopales Phirotop. Um dieses Geheimnis für jedes Phirotop aufzudecken, entwickelten wir eine weitere Formel. Wenn wir nun auf ein uns unbekanntes Phirotop stoßen, lüften wir zunächst seinen Schleier und unter­suchen, ob es sich in Wahr­heit um ein Chirotop handelt. Abhängig vom Ergebnis dieser Unter­suchung können wir dann prüfen, ob es realisier­bar ist. Falls ein Chirotop vorliegt, wird es schwierig, die Realisier­bar­keit zu entscheiden. Ist es ein nicht-chirotopales Phirotop, wenden wir einfach die Realisier­bar­keits-Formel an und alles ist klar.

Dabei machten wir eine spannende Beobachtung: Wir fanden nämlich kein einziges Phirotop, das in einem offen­sichtlichen Wider­spruch zu einem mathe­matischen Schließungs­satz steht und deshalb un­realisier­bar ist. Das sind Sätze wie etwa der so genannte Satz von Pappos: „Angenommen es liegen die drei Punkte (1, 2, 3), (4, 5, 6), (1, 5, X), (1 ,6 ,Y), (2, 4, X), (2, 6, Z), (3, 4, Y) und (3, 5, Z) jeweils auf einer Geraden. Dann liegen automatisch auch die Punkte (X, Y, Z) auf einer Geraden.“ Dass es kein Phirotop gibt, das im Wider­spruch zu diesem Satz steht, ist sehr über­raschend. Die nicht realisierbaren Chirotope, die dem Schließungs­satz wider­sprechen, dienen seit jeher als Gegen­beispiele für Theorien und Vermutungen und sind eine Quelle der Inspiration, wenn man generelle Eigenschaften von Chirotopen untersuchen möchte. Viele spannende Effekte sieht man am klarsten an diesen nicht realisierbaren Chirotopen. Wenn unsere Vermutung stimmt, dann gibt es keine nicht-chirotopalen Phirotope, die einem Schließungs­satz wider­sprechen.

Von den unzähligen Phirotopen sind also die meisten leicht zu bearbeiten. Nur die Chirotope zeigen sich wider­spenstig. Warum das so ist und wie die beiden Welten genau zusammen­hängen, bleibt vorerst noch ein Geheimnis der mathe­matischen Grund­lagen­forschung.

Und wofür ist das alles gut? Darauf könnte man mit der Geschichte des Zahlen­theoretikers Godfrey Harold Hardy (1877 – 1947) antworten, der immer sehr darauf bedacht war, seine Forschung ohne jeglichen Anwendungs­bezug zu betreiben. Er wollte die „reine Mathe­matik“ betreiben, die möglichst niemals Verwendung finden würde.

Doch heute, gut siebzig Jahre nach seinem Tod, gehören auch seine Methoden zu den Werk­zeugen der Populations­genetiker und Krypto­logen, die neue Ver­schlüsselungs­verfahren für den sicheren Daten­transfer entwickeln. Astro­physiker verwenden Phirotope bei ihren Gedanken­experimenten zur Schleifen­quanten­gravitation – einem Gegen­ent­wurf zur String­theorie. Wem das zu esoterisch scheint, es geht auch all­tags­näher: Chirotope beschreiben auch, ob die Milch­säure­moleküle in Ihrem Cappuccino links- oder rechts­drehend sind.

Absolut klar und völlig unverständlich

Das Dilemma der Mathe­matik

„Es sei K ein algebraisch abgeschlossener Körper.“ So oder so ähnlich lautet ein typischer erster Satz einer mathematischen Publikation. Wer weiß, was ein „Körper“ ist und wann dieser als „algebraisch abgeschlossen“ gilt, kann weiter­lesen. Jemand, der das nicht weiß, kann die Definition nach­schlagen, in der ein Begriff auf noch elementarere Begriffe zurück­geführt wird. Miss­verständnisse sind aus­geschlossen.

Andererseits scheint Verständnis kaum möglich zu sein. Wer den ersten Satz nicht versteht, braucht gar nicht weiter­zu­lesen, denn in den nächsten Sätzen wird voraus­gesetzt, dass man mit den eben genannten Begriffen vertraut ist.

Verrückt! Die mathematische Sprache, die ein Muster­beispiel an Klarheit ist, in der Fehl­deutungen unmöglich sind, in der man genau weiß, wovon man spricht – gerade diese Sprache verhindert den meisten Menschen einen Zugang.

Warum ist das so?

Erstens: Es bleibt nicht beim ersten Satz. Im zweiten Satz wird das Gebiet weiter spezifiziert, und so weiter. Am Ende des ersten Abschnitts bleiben nur noch die Leser übrig, die in dem Spezial­gebiet zu Hause sind.

Zweitens: Die Methode, auf die wir Mathe­matiker so stolz sind – dass sich nämlich alles aus einfachsten Anfängen (den „Axiomen“) auf systematische Weise durch logisches Argumentieren ergibt – diese Methode entspricht nur sehr entfernt den tatsächlichen Denk­prozessen. Wir denken assoziativ und sprung­haft – und wollen möglichst schnell zum Wesentlichen kommen.

Drittens: Keine Bilder oder falsche Bilder: Wenn in einer mathematischen Arbeit von einem „Ring“ oder „dem Geschlecht“ von Kurven zu lesen ist, dann entspricht das definitiv nicht dem, was sich der Laie darunter vorstellt.

Was tun? Kurz gesagt: Man muss versuchen, das Abstrakte wieder konkret werden zu lassen. Das könnte geschehen durch Erzählen, durch (reale und mentale) Bilder oder durch konkrete Anwendungen und Experimente.

Von Albrecht Beutelspacher

Albrecht Beutelspacher war bis 2018 Professor für Mathematik an der Universität Gießen. Er ist Gründer und Direktor des Mathematikums in Gießen und Träger des Communicator-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
©Rolf K. Wegst
Albrecht Beutelspacher war bis 2018 Professor für Mathematik an der Universität Gießen. Er ist Gründer und Direktor des Mathematikums in Gießen und Träger des Communicator-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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