Gummibären
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Chemie Vorbild Gummibär

Hydrogele, zu denen auch die Gummibären gehören, sind Materialien mit faszinierenden Eigenschaften. Eingelegt in ­Wasser, ändern sie ihre Größe. Dieser Effekt lässt sich in winzigen und preiswerten Sensoren nutzen

von Dr. Simon Binder

Wir erinnern uns an das Experiment aus Kinder­tagen: Legt man einen Gummibären ins Wasser, quillt er und quillt – bis er nach einem Tag fast viermal so groß ist. Denn der Gummibär ist ein „Hydrogel”. Hydrogele bestehen aus Molekülen, die danach streben, sich in Wasser fein zu verteilen. In einem Hydrogel sind diese Moleküle jedoch mit­einander zu einem großen makro­molekularen Netzwerk verbunden. Das hat zur Folge, dass sich diese Moleküle nicht beliebig im Wasser bewegen können. Statt­dessen streckt sich das Netzwerk und nimmt auf diese Weise große Mengen Wasser auf.

Auch die Gelatine, aus der ein Gummibär besteht, bildet ein solches Netzwerk. Hydrogele sind übrigens weit verbreitet. Sie finden sich auch in Kontakt­linsen, Blasen­pflastern und Windeln.

Uns interessierte eine besondere Unter­gruppe von Hydrogelen. Diese können ihre Wasser­aufnahme in Abhängigkeit von einer Umgebungs­größe aktiv verändern. Ein Stück weit kann das auch der Gummibär. Fügt man dem Wasser nämlich etwas Speise­salz hinzu, so schrumpft er. Abhängig von der Salz­konzentration, erreicht er dabei unter­schiedliche Größen.

Simon Binder zeigt im Reinraumlabor einen der kleinen Sensoren. Er besteht aus einem Hydrogel, dessen Volumen­änderungen in elektrische Signale überführt werden. Das Ganze ist nicht größer als ein Gummibär
©KTS/Annette Mueck
Simon Binder zeigt im Reinraumlabor einen der kleinen Sensoren. Er besteht aus einem Hydrogel, dessen Volumen­änderungen in elektrische Signale überführt werden. Das Ganze ist nicht größer als ein Gummibär

Es gibt zahlreiche, wesentlich komplexere Hydrogele, deren Quellgrad von den verschiedensten Umgebungs­­größen abhängt. So gibt es beispiels­weise Hydrogele, die ihren Quellgrad in Abhängigkeit vom pH-Wert, der Temperatur, dem Alkohol­gehalt oder der Blut­zucker­konzentration ändern. Aufgrund dieser besonderen Eigenschaft wird diese Art von Hydrogelen auch als „stimulus-responsive” Hydrogele bezeichnet.

Ich interessierte mich nun dafür, wie sich dieser Effekt bestmöglich in Sensoren nutzen lässt. Technische Sensoren sind kleine kompakte Bau­elemente, die verschiedene Umwelt­größen in ein elektrisches Signal umwandeln. Diese Umwandlung in ein elektrisches Signal ist sehr wichtig, denn es sind letztlich stets solche elektrischen Signale, die einfach übertragen und von Rechnern verarbeitet werden können. Allein in einem Auto finden sich heutzutage Hunderte von Sensoren. Sie erfassen den Reifen­druck, die Innen­temperatur, Regen­tropfen auf der Wind­schutz­scheibe und vieles andere mehr.

Auch stimulus-responsive Hydrogele könnten sich als Sensoren eignen – wenn diese gezielt so hergestellt werden, dass sie auf bestimmte vorgegebene Umgebungs­größen mit einer Volumen­änderung reagieren. Um den Sensor zu vervollständigen, muss diese Volumen­änderung dann noch in ein elektrisches Signal überführt werden.

Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich an einem solchen „hydro­gel­basierten Sensor” gearbeitet. Die Wandlung in ein elektrisches Signal geschieht dabei über Umwege. Das Hydrogel ist mit einer Platte verbunden. Ändert das Hydrogel sein Volumen, so biegt es die Platte verschieden stark durch. In dieser Platte befinden sich elektrische Leitungen, die bei Verformung ihren elektrischen Wider­stands­wert ändern. Diese Wider­stands­­änderung wirkt sich direkt auf das elektrische Signal an den Enden der Leitungen aus. Beim Hydrogel handelt es sich um eine Substanz, die auf den Salzgehalt reagiert. Eingebaut in den Sensor, war es so möglich, verschiedene Koch­salz­konzentrationen zu messen.

Ein wesentliches Problem musste jedoch noch gelöst werden: Die Gele reagieren sehr langsam. Die Aufnahme beziehungs­weise Abgabe von Wasser geschieht nämlich durch Diffusion. Die Volumen­änderung dauert daher recht lange. Das Beispiel Gummibär zeigt schon, wie viel Zeit dies benötigen kann. Für einen Sensor ist das inakzeptabel.

So experimentierten wir an verschiedenen Möglichkeiten, um die Messzeiten zu verkürzen. Zusammen mit Daniela Franke vom Institut für Fest­körper­elektronik der TU Dresden testete ich ein Verfahren, mit dem Wasser durch gezielt ins Hydro­gel eingebrachte Poren schneller ein- und austreten konnte. Ein anderer Ansatz, an dem ich forschte, war, die Wasser­menge für die Volumen­­änderung möglichst gering zu halten. Der Quellung oder Entquellung des Hydrogels wird hierbei mithilfe eines Gegen­drucks möglichst entgegen­gewirkt. Dazu ent­wickelte ich mit Andreas Krause, einem Chemiker aus meinem Graduierten­kolleg, ein besonderes Hydrogel, welches nicht nur auf die Salz­konzentration, sondern auch auf Temperatur­änderungen reagiert. In einem verbesserten Sensor­aufbau konnte ich so mit einer gezielten Temperierung des Hydrogels den erforderlichen Gegen­druck erzeugen. Auf diese Weise gelang es mir schließlich, die Messzeiten des Sensors auf wenige Minuten zu reduzieren. Zusätzlich konnten wir die Mess­genauigkeit verbessern und den Mess­bereich erhöhen. Dieses neue Mess­verfahren funktionierte so gut, dass mein Doktor­vater Gerald Gerlach und ich es patentieren ließen.

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Die Vorteile von hydrogel­basierten Sensoren liegen vor allem darin, dass das Sensorprinzip – das Über­führen von Quellen und Schrumpfen in ein elektrisches Signal – unverändert bleiben kann. Es muss lediglich das (in diesem Beispiel) salz­sensitive Hydrogel durch ein ander­weitig sensitives Hydrogel ausgetauscht werden. Zudem haben die Sensormodule nur Daumen­größe und sind ­preiswert. Das Hydrogel im Sensor ist so klein wie eine Gummi­bären­nase. Der Material­wert des ganzen Sensors liegt bei knapp 20 Euro.

Dank der kurzen Messzeiten und verbesserten Sensor­eigenschaften steht der konkreten Anwendung hydrogel­basierter Sensoren nicht mehr viel im Weg. Tatsächlich gibt es seit Kurzem bereits einen solchen auf dem Markt. Es handelt sich um den implantierbaren Blut­zucker­sensor Eversense der Firma Senseonics. Dabei ist nicht die Quellung Grundlage der Messung, sondern sich ändernde Fluoreszenz­eigenschaften. Viele unter Diabetes leidende Menschen tragen diesen kleinen Sensor bereits unter ihrer Haut. Er zeigt, dass es vor allem im Healthcare-Bereich ein großes Potenzial für hydrogel­basierte Sensoren gibt. Dies hängt sicherlich auch mit der hervor­ragenden Biokompatibilität von Hydrogelen, also der Verträglichkeit mit dem menschlichen Körper, zusammen. Darüber hinaus sind Hydrogele sehr weich und hinsichtlich ihres hohen Wasser­gehalts dem Körper­gewebe recht ähnlich.

Aufgrund dieser Vorteile ist zu erwarten, dass Hydrogele zukünftig vor allem für an und im Körper getragene bio­medizinische Sensoren eine wichtige Rolle spielen werden. Die Entwicklung der nächsten Generation von hydrogel­basierten Blut­zucker­sensoren ist bereits in vollem Gange. An der University of Utah arbeiten Forschende an neuartigen Hydrogel­sensoren, die unter die Haut implantiert werden. Ihr Maß der Quellung wird allein mithilfe eines von außen auf die Haut gesetzten Ultra­schall­kopfes gemessen. Der Versuch an einer Ratte zeigte bereits, dass dies funktioniert. In Zukunft soll das Hydrogel dann per Spritze unter die Haut injiziert werden. Das Hydrogel wird zusätzlich so modifiziert sein, dass es sich im Körper abbaut. Auf diese Weise könnten ambulante Eingriffe, wie sie derzeit beim regel­mäßigen Austausch des Blut­zucker­sensors der Firma Senseonics noch notwendig sind, komplett entfallen.

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Gedruckte Herzen

Viele schwerkranke Menschen warten dringend auf ein Spender­organ. Hydro­gele könnten helfen, das Problem eines Tages zu lösen

Expert:innen schätzen, dass sich das Wissen der Menschheit derzeit innerhalb von nur wenigen Jahren verdoppelt. Was heute wie Science-Fiction klingt, könnte also eher früher als später Realität sein. So wie diese fiktive Geschichte, in deren Mittel­­punkt ein Patient mit einer schweren Herz­erkrankung steht. Er ist aus­therapiert.

Im Rahmen eines kleinen, völlig unspektakulären Eingriffes entnimmt die Chirurgin ihm ein wenig Fettgewebe aus dem Bauch­raum. Im Labor werden daraus bestimmte Zellen extrahiert und in ein Hydrogel verwandelt. Aus diesem lässt sich nun mithilfe eines 3-D-Druckers eine drei­dimensionale Struktur herstellen. Das Hydro­gel­gerüst ist nichts anderes als die Negativ­form eines menschlichen Herzens.

Diese Negativform ist belegt mit Stammzellen, welche ebenfalls aus dem Fett­gewebe gewonnen und mithilfe molekular­biologischer Methoden „reprogrammiert” wurden: Diese Zellen können im nächsten Schritt zu neuen Herz­muskel­zellen heran­wachsen. Das Hydrogel gibt dem Gewebe die Form, hält es feucht und versorgt das Ganze mit Nährstoffen. Am Ende entsteht aus den körper­eigenen Zellen des Patienten ein neues, gesundes Herz.

Einzelne Kapitel dieser Geschichte sind bereits geschrieben. Forschende erzielen immer wieder maßgebliche Durch­brüche – mit dem ersehnten Ziel vor Augen: das Problem der viel zu geringen Zahl an Spender­herzen wie das der gefährlichen Abstoßungs­reaktionen zu lösen.

Am Ende der vielen Artikel, die dazu immer wieder erscheinen, stehen meist Sätze wie: „Noch steckt die Organ­zucht im Labor in den Kinder­schuhen.” Das ist richtig. Und der Durch­bruch wird sicher noch viele Jahre auf sich warten lassen. Doch die bisherigen Ergebnisse lassen hoffen, dass aus Science-Fiction einst durchaus Realität werden kann.
— JS

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